Völkerfamilie Europa – ein Schicksal, eine Zukunft

Die L! Saxo-Suevia nimmt mit diesem Motto bewusst den Faden aus ihrem Präsidialjahr 1976/77 auf, um ihn weiter zu spinnen. Damals lautete das Motto „Völkerfamilie Europa – Ziel ohne Alternative“. In den seither vergangenen 46 Jahren hat sich einiges getan. Damals, mitten im kalten Krieg, für die meisten von uns kaum vorstellbar, haben wir inzwischen den Fall der Mauer, den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Aufnahme unserer östlichen Nachbarstaaten in EU und NATO erlebt. Damit wurde einiges von dem, was man sich 1977 als Ziel vorgestellt hat erreicht.

Das damalige Motto ging wesentlich auf unseren verstorbenen Bundesbruder General aD Johannes Steinhoff zurück, der 1977 auch die Festrede auf dem Kommers hielt. Steinhoff überlebte den Zweiten Weltkrieg nur knapp und hatte später in der Bundesrepublik wesentlich am Aufbau der Luftwaffe mitgewirkt, eine Tätigkeit, die ihn zum Ende seiner Laufbahn als Vorsitzender des NATO – Militärausschusses an die oberste militärische Position der NATO geführt hat. Steinhoff hat gewusst was Krieg bedeutet, weshalb ihm die Einigung Europas ein Herzensanliegen war.

Europa mit seinen vielen Völkern hat unverändert für uns alle, aber auch für den Coburger Convent, eine entscheidende Bedeutung – 1976/77 genauso wie 2022/23. Unser Kontinent hat unzählige Kriege gesehen und wurde im 20. Jahrhundert durch zwei Weltkriege weitgehend verwüstet. Dennoch ist es den Europäern nach 1945 gelungen, ihr gemeinsames Schicksal über viele Jahrzehnte zum Positiven zu wenden und sich mehr auf das Gemeinsame als auf das Trennende zu konzentrieren. Umso mehr entsetzt uns alle, dass knapp 80 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges erneut ein brutaler Krieg in Europa ausgebrochen ist.

Wir haben in Coburg bis 1989 die politisch erzwungene Teilung Deutschlands und Europas erlebt und jedes Jahr auf dem Marktplatz die Einheit angemahnt. Dieser Einheit Europas sind wir nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einen großen Schritt näher gekommen. Dies betrifft uns auch ganz unmittelbar, denn viele unserer Bünde haben, wie wir auch, Wurzeln in Orten, die heute nicht mehr in Deutschland, aber nach wie vor in Europa liegen. Wir erinnern jedes Jahr zu Beginn des Kommerses an diese Städte, die einst deutsch waren und deren Tradition in vielen unserer Bünde weiterlebt. Heute können wir aber, anders als noch vor fast 50 Jahren, auch wieder nach Breslau und Prag fahren um dort Kneipen abzuhalten. Und mehr als das: wir haben auch wieder Bundes- und Verbandsbrüder aus Städten wie Breslau und Prag.

Dies ist ein Erfolg der Freizügigkeit. Unsere jungen Bundesbrüder können heute frei entscheiden, wo in Europa sie studieren und arbeiten wollen – sie werden nicht mehr gezwungen, Ihre Heimat zu verlassen. Wir in Erlangen wissen, wovon wir reden, denn Erlangen ist ganz wesentlich eine Ansiedlung von Flüchtlingen, nämlich von französischen Hugenotten, die ab 1686 aus religiösen Gründen ihr Heimatland verlassen mussten und hier Niederlassungs- und Religionsfreiheit zugesichert bekamen. Eine bedeutende Fakultät für evangelische Theologie an der Friedrich-Alexander-Universität ist heute noch Zeugnis dieser Geschichte.

Das Schicksal Europas berührt den Coburger Convent, seine Bünde und die Städte, in denen diese beheimatet sind, zu allen Zeiten auch ganz unmittelbar. Die Beispiele machen sichtbar, was im Lichte der Globalisierung und mit Blick auf andere große Blöcke außerhalb Europas immer deutlicher wird: nämlich dass die Völker Europas mehr verbindet als trennt, dass wir sie daher heute mit Fug und Recht als Völkerfamilie bezeichnen können. Dies ist das Resultat von dreitausend Jahren gemeinsamer Kultur und Geschichte, gemeinsamer Entwicklungen in Wirtschaft und Wissenschaft und den vielfältigen Verbindungen der Menschen über Grenzen hinweg. Mit anderen Worten: wir sind durch ein gemeinsames Schicksal im Guten wie im Schlechten verbunden und sehen – ob wir wollen oder nicht – einer gemeinsamen Zukunft entgegen.

Um auszudrücken, dass wir nach vorne schauen wollen, aber dabei auch den Blick in die Vergangenheit für wichtig halten, verbinden wir die Worte „Schicksal“ und „Zukunft“ im Motto. „Schicksal“ weist auf eine von außen vorgegebene Verbindung hin, etwa bedingt durch die geografische Nähe. Der Begriff zeigt sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft, ist aber durch den implizit enthaltenen äußeren Einfluss auch negativ konnotiert. Mit dem Wort „Zukunft“ signalisieren wir, dass es uns vor dem Hintergrund der schon geografisch bedingten Schicksalsgemeinschaft der Völker in Europa darum geht, die Zukunft unseres Kontinentes aktiv gemeinsam zu gestalten. Gerade wir Deutschen in der Mitte Europas haben ein vitales Interesse an einer friedlichen und blühenden Völkerfamilie Europa, die ein gemeinsames Schicksal teilt, aber auch gemeinsam in eine prosperierende Zukunft blickt – letzteres hoffentlich auch bald wieder in ganz Europa! Dazu wollen wir unseren Teil beitragen.